Glaubensgerechtigkeit-1
Glaubensgerechtigkeit-1
Predigt Römer 3,19+20; von Bruder W. Küch gehalten am 21.10.2018 und überarbeitet.
(Teil 1 von 4)
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus.
Ich lese aus dem Römerbrief K.3,19+20.
„Wir wissen aber, was das Gesetz sagt, das sagt es denen, die unter dem Gesetz sind, auf dass jeder Mund gestopft werde und alle Welt vor Gott schuldig sei, weil kein Mensch durch die Werke des Gesetzes vor ihm gerecht sein kann; denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.“
Einige unter uns können sich vielleicht noch an die Geschichte erinnern, die Pastor Wilhelm Busch einmal erzählt hat. Es kam ein junger, gebildeter Mann zu ihm. "Ja, Herr Pfarrer, so meinte er, Sie müssten das mehr konkretisieren, was Sie jetzt gesagt haben. Sehen Sie, Gott tut was. Kreuz Jesu, Auferstehung Jesu, das sind doch Dinge, mit denen wir nichts anfangen können. Sie müssen das konkretisieren, von den Problemen unseres Lebens reden, zum Beispiel von sexuellen Fragen oder wie wir mit dem Geld umgehen und wie wir mit den Eltern fertig werden. Ach, sage ich, damit bin ich also glücklich wieder auf dem Wege aller Religionen. Ich soll den Menschen sagen, was sie tun sollen. Das nennt die Bibel Gesetz. Das Evangelium ist nicht Gesetz, Lebensregeln, Lebenshilfe; zunächst nicht. Das Evangelium ist zunächst die unerhört große Botschaft, die geglaubt und angenommen werden darf. Der lebendige Gott, der Himmel und Erde gemacht hat, hat für die kleinen, schuldigen Menschen etwas getan. Er hat seinen Sohn, den Herrn Jesus Christus, gegeben. Er hat ihn sterben lassen am Kreuz."
Nun gibt es ja in unserer Zeit viele, die sich, wie man es nennt, für Jesus entschieden haben, weil sie mit den Problemen ihres Lebens nicht fertig geworden sind. Jesus soll ihnen nun helfen, ihre Probleme zu lösen und auch ein moralisch besseres Leben zu führen. Das erwarten sie von einer Predigt. Und auch in der Einzelseelsorge geht es in der Hauptsache um Lebenshilfe. Was andere beim Psychiater suchen, das suchen sie nun bei Jesus, eingehüllt in ein frommes Gewand des christlichen Glaubens. Sobald sie etwas hören von dem, was Gott getan hat, was Er in Christus getan hat, schalten sie mehr oder weniger ab. Schließlich brauchen sie doch etwas für den Alltag! Das zu predigen bzw. zu hören und über das nachzudenken, was Gott getan hat in Christus Jesus, das ist doch schließlich nichts, womit ich im Alltag etwas anfangen könnte, so meinen sie.
Luther hat folgende Erfahrung gemacht: „Wenn ich über alles Mögliche spreche in der Predigt und schöne Beispiele und Bilder gebrauche, dann hören die Leute sehr gut zu. Aber fange ich an, über die Rechtfertigung aus dem Glauben zu reden, dann fangen sie an zu schnarchen. Es ist ihnen langweilig.“
Doch auch unter denen, die wirklich aufgrund ihrer Sünde zu Jesus gekommen sind, weil sie Not gehabt haben wegen ihrer Sünde vor Gott, gibt es manche, wenn nicht sogar viele, die lieber das hören, was wir in der Nachfolge Jesu zu tun haben, als das, was Jesus für uns getan hat. Um es einmal so zu formulieren: Ihr Hauptakzent liegt mehr auf der Heiligung als auf der Rechtfertigung, mehr auf ihrem Gehorsam als auf dem vollkommenen stellvertretenden Gehorsam unseres Herrn Jesus Christus. Sie leben mehr von ihrem Tun als von dem, was Gott in Christus getan hat.
Die Folge davon kann bei den Einzelnen unterschiedlich ausfallen. Da gibt es solche, die fallen nach großen anfänglichen Anstrengungen in ein laues Mittelmaß ihres Glaubenslebens zurück, sie haben längst resigniert. Hin und wieder merken sie noch, dass sie hinter dem biblischen Maßstab der Nachfolge Jesu weit hinterherhinken. Doch sie haben sich inzwischen damit abgefunden.
Und andere lesen beispielsweise ein gutes Buch über Heiligung oder den christlichen Dienst. Vielleicht lesen sie auch mit großem Interesse eine Biographie, oder sie hören eine gute, aufrüttelnde Predigt, in der sie dazu aufgefordert werden, sich dem Herrn noch mehr hinzugeben, noch treuer zu sein. Sie vergrößern ihre Anstrengungen und stellen sich und auch andere unter einen enormen Frömmigkeitsdruck und hoffen, irgendwann einmal ihre Ziele zu erreichen.
Beide haben eines gemeinsam: Sie haben keine oder wenig Freude in ihrem Glaubensleben.
Während die einen mit großer Anstrengung verbissen ihren selbstgemachten Leidensweg gehen, suchen die anderen ihre Befriedigung in den natürlichen Freuden, die wir ja nicht geringschätzen wollen, da sie uns, wie das Büchlein des Predigers Salomo deutlich macht, auch von Gott geschenkt sind. Dabei wollen sie ihr freudloses Christenleben zwar nicht gänzlich über Bord werfen, ihre eigentliche tiefe Befriedigung aber finden sie nicht in der Gemeinschaft mit Gott, in der Betrachtung seines Wortes und den großen Wundertaten der Erlösung, die Gott in Christus Jesus getan hat.
Lloyd Jones hat eine Reihe von Predigten über geistliche Depressionen gehalten, nicht krankheitsbedingte und erschöpfungsbedingte Depressionen. Als Hauptgrund dafür, dass manche in ihrem christlichen Glauben nur wenig Freude haben, nennt er das mangelnde Verständnis von der Rechtfertigungslehre. Er charakterisiert sie als solche, die sich auf die Heiligung, also auf das Verhalten des Christen und auf den Dienst des Christen, konzentrieren, wobei sie die Rechtfertigungslehre nicht recht begriffen haben. Die Folge davon ist Niedergeschlagenheit und Freudlosigkeit.
Dabei handelt es sich um solche, die wohl grundsätzlich bekennen, dass sie nicht durch Werke vor Gott gerecht sein können, sondern allein durch den Glauben an Jesus Christus und seinen stellvertretenden Opfertod, deren Verständnis von der Rechtfertigung des Sünders vor Gott durch das Blut Jesu jedoch nicht gründlich ist. Von daher erfahren sie die göttliche Kraft dieser Lehre mit all' den wunderbaren Auswirkungen nicht in ihrem alltäglichen Leben. Von daher sehen sie auch nicht, dass ein geheiligtes Leben nichts anderes ist als gelebte Rechtfertigungsgnade, die allem christlichen Verhalten und Dienst zugrunde liegt.
Darum halte ich es für außerordentlich wichtig, dass man hin und wieder ausführlich auf dieses Thema der Rechtfertigung zu sprechen kommt. Und ich sehe mich einfach vom Geist Gottes so geführt, einige Predigten über dieses Thema anhand bestimmter Stellen aus dem Römerbrief zuhalten, weil ich der Überzeugung bin, dass hier in der heutigen Gemeinde der Hauptgrund für das freudlose und kraftlose Christendasein liegt. Man sucht hier und dort nach Hilfe. Man fragt sich: Was fehlt mir? Wo fehlt es mir? Was kann ich tun? Diese Frage wird ja immer wieder gestellt: Was kann ich tun, um aus meiner Misere herauszukommen? Man sieht nicht, dass das eigentliche Problem darin liegt, dass man in der Tiefe seines Herzens nicht verstanden hat, wie herrlich es ist, zu wissen, dass man mit Gott in Ordnung ist und Frieden mit Gott hat durch das, was Jesus für uns getan hat.
Unser Textwort macht deutlich, dass eine Grundvoraussetzung für ein rechtes Verständnis der Rechtfertigung des Sünders aus Gnade durch den Glauben ein gründliches Sündenbewußtsein ist: „Wir wissen aber, was das Gesetz sagt, das sagt es denen, die unter dem Gesetz sind, damit allen der Mund gestopft werde und alle Welt vor Gott schuldig sei. Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.“
In Kapitel 1 in den Versen 16 und 17 des Römer Briefes stellt der Apostel Paulus zunächst einmal das Evangelium vor:
„Denn ich schäme mich des Evangeliums von Christo nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht: Der Gerechte wird aus Glauben leben.“
Das bedeutet also: Der durch den Glauben an Christus Gerechte wird leben, hat Leben, hat ewiges Leben. Das stellt Paulus hier an den Anfang seines Briefes. Hier geht es um den Inhalt des Evangeliums, um die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, die wir in Christus Jesus haben.
Es ist das Wort, durch das Martin Luther den Weg zum Heil fand. Das Wort, das Himmel und Erde bewegt, durch das als Folge der Reformation die ganze Welt verändert wurde. Nach dieser Vorstellung des Evangeliums geht Paulus dazu über, die Unentschuldbarkeit der Völkerwelt, auch des Volkes Israel, in ihrer Sündhaftigkeit und Verlorenheit vor Gott zu beweisen. Da sie unentschuldbar sind, stehen sie unter dem Zornesgericht Gottes.
Die sogenannten Heiden sind zunächst einmal darum unentschuldbar, weil sie Gott als dem Schöpfer nicht die entsprechende Ehre geben. Römer Kapitel 1, Verse 20 und 21:
„Denn Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit wird seit der Schöpfung der Welt ersehen aus seinen Werken, also aus der Schöpfung, wenn man sie wahrnimmt, so dass sie keine Entschuldigung haben. Denn obwohl sie von Gott wußten, haben sie ihn nicht als Gott gepriesen noch ihm gedankt, sondern sind dem Nichtigen (Götzendienst) verfallen in ihren Gedanken und ihr unverständiges Herz ist verfinstert.“
Wenn wir einen Spaziergang in einer schönen Landschaft machen und uns an der herrlichen Schöpfung erfreuen, können wir erkennen, dass es einen lebendigen Gott gibt, einen Gott, der das alles so herrlich und wunderbar geschaffen hat. Wenn man diesem Gott aber nicht die Ehre gibt, ihm nicht dankt und nicht für ihn lebt, dann gibt es für den Menschen keine Entschuldigung. Er ist dem Zorn Gottes verfallen.
Denn obwohl sie von Gott wissen, machen sie sich ihre eigenen Götter und verehren sich selbst und das von ihnen Geschaffene und nicht den Schöpfer Himmels und der Erde und führen als Folge davon ein lasterhaftes Leben (Röm. 1, 24 ff.). Gott hat sie in Unreinheit jeglicher Art dahingegeben, weil sie Gottes Wahrheit in Lüge verkehrt haben.
Hinzu kommt, dass die Nichtjuden von Natur aus ein gewisses, wenn auch sehr unvollkommenes, moralisches Empfinden für Gottes Ordnungen in ihren Herzen haben. Wenn die Heiden, die das geschriebene Gesetz Gottes nicht haben, sich doch Mühe geben, sich an das zu halten, was ihnen ihr Gewissen bezeugt, sind sie sich selbst ein Gesetz, obwohl sie das (geschriebene) Gesetz Gottes nicht haben, wie Paulus in K. 2, 14-16 schreibt, so dass sie voll verantwortlich sind.
Wieviel mehr gilt das für uns, die wir zwar zu den Heidenvölkern (den "Nationen") gehören, die wir jedoch über viele Jahrhunderte in den Geboten der H. Schrift unterwiesen worden sind. Es gibt für uns keine Entschuldigung für die Übertretung der Gebote Gottes.
Besonders gilt das natürlich für das jüdische Volk, das den großen Vorzug gehabt hat, dass Gott sich in diesem Volke geoffenbart hat und ihm durch Mose seine Gebote ausdrücklich gegeben hat, die dann im gesamten AT, speziell durch die Propheten, auf die Situationen im Volk Gottes angewandt worden sind.
Als solche, die unter der Herrschaft und dem Anspruch des Gesetztes Gottes stehen, sind sie vor Gott verantwortlich und als Übertreter schuldig.
„Wir wissen aber, was das Gesetz sagt, das sagt es denen, die unter dem Gesetz, unter der Herrschaft, unter dem Anspruch des Gesetzes sind, damit allen der Mund gestopft werde und alle Welt vor Gott schuldig sei. Es ist kein Unterschied zwischen Heiden und Juden. Sie sind alle Sünder und mangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten. Sie haben alle das Gesetz Gottes übertreten. Denn die Schrift sagt: Wer nicht bleibt, in allem, was geschrieben steht, der steht unter dem Fluch des Gesetzes und damit unter dem Zorn Gottes.“ (s. Gal. 3, 10)
Wir wollen nun ein wenig darüber nachdenken, was denn das Sündersein des Menschen eigentlich ausmacht. Denn hier entscheidet es sich, ob ein Mensch im Grunde seines Herzens das Heil in Christus recht erfasst hat und er sich immer wieder aufs Neue von Herzen freuen kann über diese vollkommene Gerechtigkeit, in der Vergebung unserer Sünde, die Gott uns in Christus Jesus durch sein Blut geschenkt hat.
Zunächst ist es von großer Bedeutung, dass wir unsere Sünde als ein Schuldig-Sein vor Gott ansehen. Es heißt hier:
„Wir wissen aber: was das Gesetz sagt, das sagt es denen, die unter dem Gesetz sind, damit allen der Mund gestopft werde und alle Welt vor Gott schuldig sei.“
In Psalm 51, 6 bekennt David: „An dir allein habe ich gesündigt und Unrecht vor dir getan.“
David bedauerte also seine Sünde um Gottes willen.
Diese durch den H. Geist gewirkte Traurigkeit "nach Gottes Willen" (2. Kor. 7,10) unterscheidet sich grundsätzlich davon, dass man sein Versagen um seiner selbst willen bedauert, weil man seinen moralischen Ansprüchen nicht genügt, die durchaus den Geboten Gottes entsprechen können.
Professor Iwand schreibt in seinem Buch über die Glaubensgerechtigkeit folgendes dazu:
„In diesem Schuldbewusstsein sieht sich der Mensch im Spiegel des erstrebten, aber nicht erreichten Ideals…. Der Mensch, wie er ist, vergleicht sich mit dem Menschen, der er sein möchte…. Hier hat der Mensch nicht Gott zum Gegenüber, sondern sich selbst; hier bekennt er nicht: 'Vor Dir habe ich gesündigt'! In diesem Schuldbewußsein ist der Mensch mit sich allein.“
Bei dieser Art von Sündenbewußtsein und Sündenbekenntnis sitzt das "fromme" Ich mit seinen moralischen Ansprüchen (bis hin zum sog. Perfektionismus) auf dem Thron, gemäß der Lügenverheißung des Satans: „Ihr werdet sein wie Gott“ (1. M. 3, 5). So wird man vor sich selbst schuldig, man ärgert sich über sich selbst oder ist verzweifelt darüber, dass man es wieder einmal nicht geschafft hat! Man bereut sein Versagen nicht, weil man Gott betrübt hat, sondern sich selbst. Man steht vor sich selbst und oft genug auch vor den Ansprüchen anderer Menschen!
Herr vergib uns diese "weltliche Traurigkeit" (2. Kor. 7, 10), die ihre Wurzeln in der "fromm" gemachten Eigengerechtigkeit hat!
Hier handelt es sich also nicht um eine durch Gottes Wort gewirkte Sündenerkenntnis.
Sie führt mich nicht zum Kreuz, zur Freude der Vergebung, der Reinigung durch das Blut Jesu, zur Gewißheit, dass zwischen Gott und mir alles in Ordnung ist durch das, was Jesus für mich getan hat.
Als nächstes gilt es zu beklagen, dass viele nur ein sehr unvollständiges Verständnis von Sünde haben. Ihr Sündenverständnis beschränkt sich auf einzelne Tat- und Unterlassungssünden: Ich habe gelogen. Ich habe betrogen. Ich habe sexuell ausschweifend gelebt, ich habe dieses oder jenes zu tun versäumt. Es sind Sünden, von denen ja die Bibel klar und deutlich spricht. Diese Übertretungen der Gebote Gottes zu bekennen, weil man dadurch Gott betrübt hat, ist richtig, gut und notwendig. Doch kommt dieses Verständnis von Sünde zu kurz.
Lloyd Jones erzählt von einer Frau, die in einem sehr religiösen Elternhaus erzogen worden war. Sie hatte immer am Gottesdienst teilgenommen und hatte sich intensiv am Gemeindeleben beteiligt. Sie sagte zu ihm:
„Wissen Sie, ich wünsche mir fast, anders erzogen worden zu sein.“ Was meinte sie damit? Nun, sie hatte die Freude derer gesehen, die sich aus einem lasterhaften Leben zu Jesus bekehrt hatten, und diese Freude fehlte ihr. Was war ihr Problem? Sie hatte ein verkürztes Verständnis von Sünde.
Das ist das Problem vieler, die bei ihrer Bekehrung nur einzelne Sünden erkannt und bekannt haben und keine Klarheit darüber hatten, dass sie eine durch und durch sündige, gottfeindliche und unverbesserliche Natur haben, mit einer Neigung, immer den Irrweg gehen zu wollen und nur sich selbst zu suchen, statt sich von Gott geliebt zu wissen und für ihn da zu sein, ihn über alles zu lieben und ihn zu verherrlichen.
Wie kommt es nun bei uns zu einem rechten Sündenbewußtsein? Wir wissen, dass Paulus im Rückblick auf seine Vergangenheit als Pharisäer von sich sagen konnte, dass er untadelig war hinsichtlich der Forderungen im Gesetz Gottes (Phil. 3, 6), ja dass er viele seiner Zeitgenossen im Eifer für Gottes Gesetz weit (Gal. 1, 14) übertraf. Offensichtlich hatte er gemeint, aufgrund rein äußerer Befolgung gesetzlicher Vorschriften vor Gott bestehen zu können. Das hatte ihn dazu bewegt, den Sünderheiland zu verachten und seine Gemeinde zu verfolgen. Nun aber, unter dem überwältigenden Eindruck der Gnade Gottes in Christus, bezeichnete er sich als den größten Sünder
(1. Tim. 1, 15). Sein falsches Verständnis vom Gesetz und seinen Forderungen hatte ihn in die Irre geführt. Jetzt wußte Paulus, dass niemand vor Gott gerecht sein konnte durch die Werke, die das Gesetz verlangt, sondern: „Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.“
Das Gesetz erwartet nicht nur eine äußere Einhaltung bestimmter Vorschriften, sondern es zielt auf unsere innersten Beweggründe ab.
Wenn es heißt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all' deiner Kraft“ (5. M. 6, 5) und „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (3. M. 19, 18), so bedeutet das doch: In allem, was du tust und unterlässt, sollte dich nur ein einziger Beweggrund leiten: Die Liebe zu Gott und zum Nächsten. In diesen beiden Geboten, so sagt Jesus, „hängt das ganze Gesetz und die Propheten“ (Mt. 22, 40).
Die Frage ist: Hast du das praktiziert? Hast du das Gesetz erfüllt? Erfüllst du es ständig?
Es geht nicht darum, ab und zu mal für Gott da zu sein, den Gottesdienst zu besuchen und zu beten, sondern alles, was unser Leben ausmacht, alles Tun sollte in Liebe auf Gott ausgerichtet sein. Auch das Unterlassen böser Dinge sollte nicht aus Stolz heraus geschehen oder weil wir uns vor den negativen Folgen fürchten oder die Meinung anderer scheuen, sondern aus Liebe zu Gott.
Dabei sollten wir nicht meinen, dass Gott in seinem Gesetz auch nur ein wenig von dieser Forderung abgeht, Gott zu lieben, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit ganzem Gemüte, mit all deiner Kraft nach Geist, Seele und Leib und seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst. Gott fordert von dir eine vollkommene Erfüllung dieser beiden Gebote, die alles enthalten, was Gottes Gesetz ausmacht.
Eine einzige Übertretung dieser größten Gebote macht dich zum größten Sünder. Es ist also gar nicht nötig, erst „bei den Schweinen“ zu landen wie der jüngste Sohn im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Luk. 15).
Diese Frau, von der Lloyd Jones spricht, war ja der Meinung, es wäre besser gewesen, wenn sie so richtig tief im Sumpf der Sünde gesteckt hätte. Welch ein Irrtum! Denken wir an den älteren Sohn, von dem Jesus in dem erwähnten Gleichnis spricht. Dieser Sohn hatte sich keines ausschweifenden Lebens schuldig gemacht, er war stets in der Nähe seines Vaters geblieben und hatte seinen Dienst treu verrichtet. Doch hatte er das wirklich uneigennützig und aus Liebe zum Vater getan? Und - was noch schwerer wiegt - kannte er eigentlich das liebende Herz seines Vaters? War sein stolzes, selbstgerechtes Wesen nicht genauso verwerflich wie das lasterhafte Leben seines Bruders?
So sind wir, auch wenn wir nicht in groben Sünden gelebt haben, die größten Sünder.
Im Blick auf die rechte Liebe zu Gott, sagt Luther: "Gott lieben wegen des ewigen Heils und der ewigen Ruhe oder wegen der Flucht vor der Hölle, das heißt: ihn nicht lieben um Gottes willen, sondern um seiner selbst willen. Aber das hieße doch wohl selig sein, nämlich Gottes Willen und Gottes Ehre in allen Dingen suchen und für sich selbst nichts wünschen, weder hier noch im Jenseits". Luther stellt die Frage, wie ein Mensch wohl leben würde, wenn es keinen Himmel und keine Hölle gäbe. Wir fragen uns: Haben wir wirklich diese selbstlose Liebe in unserer Natur?
Das Gegenteil davon ist der Fall. Von Natur aus hassen wir diesen Gott, der von uns Leistungen erwartet, die wir nicht erbringen können. Wir sind geborene Feinde Gottes, die dem Gesetz Gottes nicht untertan sind und auch nicht sein können.
Von daher macht H.J. Iwand in seiner Abhandlung über die Glaubensgerechtigkeit eine äußerst bedeutsame Feststellung: "Wo immer das Wort Gottes den Menschen trifft, trifft es ihn als Gegner. Wird es so dargestellt, als wäre Gottes Wort eine dem Menschen, seinen Hoffnungen und Wünschen gemäße, ihnen gleichsam entsprechende Wahrheit, so ist von vorneherein erwiesen, dass wir es hier nicht mit Gottes Wort zu tun haben. In dieser Anpassung des Wortes an den Menschen und sein Wesen sieht Luther geradezu das durchgängige Kennzeichen aller Häresie (Irrlehre)....... man macht Gott zu einem Wunschbild des Menschen."
Das Wort Gottes steht also, wie Luther betont, im Widerspruch zu unserem Sinn und unserem Wünschen. Es steht immer im Widerspruch zu dem, was seinen Ursprung in uns selbst hat, auch wenn es noch so fromm erscheint.
Nicht nur das Gesetz bringt uns kein Leben, sondern auch das Evangelium bringt uns nicht das Leben, nach dem wir uns schon immer gesehnt haben. Es bringt uns das Leben in Christus, das Gott verherrlicht, und das wollen wir von Natur aus nicht!
Diese Abneigung gegen Gott und sein Wort ist auch bei den Gläubigen stets noch gegenwärtig.
Wie könnten wir, die wir von Natur so ganz und gar böse sind, auch nur ein gutes Werk tun, um dadurch vor Gott gerecht zu werden?
Ist uns durch den Anspruch des göttlichen Gesetzes schon einmal der Mund gestopft worden, wie Paulus es hier nennt:
„Wir wissen aber, was das Gesetz sagt, das sagt es denen, die unter dem Gesetz sind, damit allen der Mund gestopft werde und alle Welt vor Gott schuldig sei“?
Denken wir an die Worte Hiobs, der ein tadelloses Leben geführt hat. Was sagt er am Ende seiner Leidensgeschichte? „Ich lege meine Hand auf den Mund und tue Buße in Staub und Asche.“ (Hiob 42,6)
Willst du durch deine Aufrichtigkeit, deine Hingabe und Treue, deine Liebe zu Gott und dem Nächsten, auch nur einen einzigen Segen von Gott erlangen, geschweige denn vollkommen gerecht vor ihm sein? Bevor uns unser Mund zur Ehre Gottes in Christus Jesus geöffnet werden kann, muß er uns erst einmal gestopft werden. Das gilt übrigens auch für unseren Umgang mit unserem Nächsten. Wenn du mit anderen sprichst, so laß dir von Gott erst den Mund stopfen, sonst redest du mit ihm in selbstgerechter Gesinnung und nicht als in Christus begnadigter Sünder. Wie oft haben wir hierin versagt!
Nun sagt vielleicht unter uns jemand: Ich empfinde das aber nicht, dass ich so schlecht bin. Doch es geht zunächst nicht darum, ob du das Urteil Gottes über uns, dass du nämlich eine total verderbte Natur hast, empfindest. Vielmehr geht es darum, das zu glauben, was Gott über uns in seinem Wort sagt.
Dieses Sündenwesen will zunächst aufgrund der Aussagen des Wortes Gottes geglaubt werden. So wird es auch zu einem rechten Sündenbewußtsein kommen.
Unsere Erfahrung wird dann das Wort Gottes immer mehr bestätigen, nämlich dass durch die Gesetzeswerke kein Mensch vor Gott gerecht wird, wie der Liederdichter es bezeugt:
„Dem, was dein Gesetze spricht, kann mein Werk genügen nicht. Mag ich ringen, wie ich will, fließen auch der Tränen viel, tilgt das doch nicht meine Schuld; Herr, mir hilft nur deine Huld.“ (Fels des Heils).
Wir wollen auch bedenken, dass ein vertieftes Sündenbewußtsein ein lebenslanger Prozess ist, bei dem der H. Geist uns durch das Wort Gottes immer mehr in Gottes Licht hineinstellt. Allerdings bleibt das Bewußtsein unserer Sündhaftigkeit immer weit hinter der Wirklichkeit zurück, wie Gott sie sieht. Du empfindest deine Sünde nie so, wie Gott sie empfindet, wie unser Herr Jesus Christus sie stellvertretend am Kreuz für dich und mich empfunden hat. Nur in Christus haben wir eine vollkommene Sündenerkenntnis. Sie ist ein Gegenstand des Glaubens, der sich in unserer Erfahrung mehr und mehr auswirkt.
So werden wir immer tiefer in die vom H. Geist gewirkte innere Armut und gleichzeitig in den inneren Reichtum in Christus hineingeführt, indem wir im Glauben bekennen: „Nichts hab' ich zu bringen, alles, Herr, bist du“, alles, was Gott gefällt.
Sündenerkenntnis ist somit eine Grundvoraussetzung dafür, dass wir ein rechtes, frohmachendes Verständnis der Rechtfertigungslehre durch den Glauben an Christus erhalten (allerdings keine Gesetzes-Bedingung, die wir erfüllen müßten). So wird sich unsere Glaubensgerechtigkeit als eine wunderbare Kraft und Zuversicht in unserem Leben erweisen.
Welch eine großartige, herrliche Lehre ist das doch, dass wir als unaufrichtige, ichverkrümmte Sünder zu Jesus kommen dürfen mit den Worten: „Ja, so nimmst du mich, das sagt dein Wort, und das will ich in deinem Namen glauben.“ Das bleibt meine Stellung in meinem ganzen Glaubensleben bis hin zur Vollendung! Das ist unsere Freude!
Von daher weiß ich: Ich bin Gottes Kind, ein Erbe des Himmelreiches, habe den H. Geist empfangen und werde von Gott bewahrt bis zur ewigen Herrlichkeit in der Gemeinschaft mit unserem himmlischen Vater und seinem lieben Sohn.
Mit der Zeit werden alle meine Lebensbereiche durchdrungen von der frohen Gewißheit: Ich bin vor Gott absolut gerecht in Christus Jesus, meinem Stellvertreter.
Auf dem dunklen Hintergrund meiner Sündhaftigkeit leuchtet die erstaunliche, überfließende Gnade Gottes in Christus auf.
Leider wird - und das hat tragische Folgen - im Allgemeinen mehr über das gepredigt und nachgedacht, was wir im Blick auf unsere Heiligung und unseren Dienst für Gott zu tun haben, statt über das, was Christus für uns vollbracht hat und den Reichtum seiner Gnade, den wir in ihm zur Verherrlichung Gottes haben.
Die Kirchengeschichte lehrt, dass die Predigt von der Glaubensgerechtigkeit im Laufe der Jahre mehr und mehr in den Hintergrund gerückt ist. Die Folge davon waren mancherlei Verirrungen.
So bezeugt August Hermann Franke:
„Nichts ist nach der Kraft und Erfahrung unbekannter als das Geheimnis von Christus für uns und die Rechtfertigung, so doch der Gläubigen Paradies und Element und die Perle der evangelischen Reformation ist.“
Und darum muss diese Botschaft immer wieder gepredigt werden, wie Luther sagt: „Ich will an dem Artikel (der Rechtfertigung) lernen und lehren, solange ich lebe; er soll in meinen Predigten fleißig getrieben werden; denn ich sehe wohl, was er tut, wo er ist, und dagegen, welch Schaden es auch bringt, wo er nicht ist. Denn dieser Artikel ist der Grund und Fels, darauf die ganze Christenheit und Gemeinde Gottes gebauet ist, auch unsere Mauer und Wehr gegen alle Rotten und Irrtümer.“
Ich schließe ab mit einem Wort von Pastor W. Busch:
„Ich bin gewiss, dass die evangelische Kirche steht und fällt mit ihrer Predigt. Und ich bin überzeugt, dass darin die eigentliche Aufgabe unserer Predigt besteht: die Lehre von der Rechtfertigung. Wie wird ein Mensch vor Gott gerecht? Allein durch Christus. Daher ist die Rechtfertigung in und durch JESUS CHRISTUS erwecklich zu predigen.“
Amen.
Glaubensgerechtigkeit-I.PDF